In vielen Ländern muss der Energiesektor noch weiter ausgebaut werden. Doch gerade hier bietet sich viel Potenzial für Erneuerbare: Durch das Leapfrog-Phänomen könnten einige Entwicklungsländer die Phase der fossilen Energieversorgung größtenteils überspringen und gleich zu Erneuerbaren übergehen.
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Der Verbrauch fossiler Brennstoffe für die Stromerzeugung hat seinen Zenit möglicherweise bereits überschritten, wie ein aktueller Report der Initiative Carbon Tracker und des Rates für Energie, Umwelt und Wasser (CEEW) aufzeigt. Der Anteil Erneuerbarer Energien wächst demnach und drängt in weiten Teilen der Welt Kohle und Öl zurück. Eine Entwicklung, die laut den Autoren in den kommenden Jahren deutlich schneller voranschreiten wird als bisher – getrieben durch ein massives Wachstum der Strommärkte in Schwellenländern. Die Forscher beobachten, dass sich in vielen dieser Länder ein sogenannter „Leapfrog“, auf Deutsch „Bocksprung-Effekt“, ankündigt. Bei diesem Phänomen überspringt ein System, in diesem Fall der Stromsektor, eine oder mehrere Entwicklungsstufen. Die Studie „Reach for the sun. The emerging market electricity leapfrog” hat untersucht, welche Folgen das für die globale Energiewende haben kann. Grundlage der Studie sind vor allem Daten und Prognosen der Internationalen Energieagentur IEA und der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
In den meisten Industriestaaten verlieren fossilen Energieträger sukzessiv an Bedeutung: Die Nachfrage nach ihnen hat in der Stromerzeugung 2007 ihren Höhepunkt erreicht und ist seitdem um rund 20 Prozent zurückgegangen. Vor allem Länder in Nordamerika und Europa befinden sich mitten in einer Transformation. Da sich der Strombedarf in den 38 Mitgliedsstaaten der OECD, der vor allem wirtschaftsstarke, weiter entwickelte Länder angehören, seit Jahren auf einem relativ konstanten Niveau befindet, gilt es dort vor allem, fossile Brennstoffe durch Erneuerbare Energien zu ersetzen.
Anders sieht die Lage in den weniger weit entwickelten Staaten aus, zum Beispiel in weiten Teilen Asiens, Südamerikas und Afrikas. Dort ist der Energiesektor nicht so weit ausgebaut, noch immer haben Millionen Menschen überhaupt keinen Zugang zu Elektrizität. Die Stromnachfrage pro Kopf beträgt weniger als ein Drittel des Industriestaaten-Niveaus. Allerdings prognostizieren die Autoren der Studie in den Nicht-OECD-Ländern für die kommenden Jahre ein massives Wachstum: Ihren Berechnungen zufolge wird der Strombedarf pro Kopf von aktuell 2,5 Megawattstunden (MWh) pro Jahr bis 2050 auf 5,9 MWh steigen. Das entspräche dem durchschnittlichen Bedarf europäischer Länder.
Um dem höheren Bedarf gerecht zu werden, müssen die Erzeugungskapazitäten erheblich ausgebaut werden. Dabei sind Erneuerbare eindeutig im Vorteil, wie die Experten aufzeigen: Sie sind schon heute fast überall auf der Welt die kostengünstigste Variante für neue Stromerzeugungsanlagen, und gerade Schwellenländer verfügen über ein gewaltiges Potential an Solar- und Windenergie – laut dem Bericht 140-mal so groß wie ihr Energiebedarf. Noch beträgt der Anteil von Solar- und Windenergie an der Stromversorgung in diesen Staaten (ohne China) lediglich vier Prozent. Das Ausbaupotential ist also nicht ansatzweise ausgeschöpft.
Genau diese Ausgangslage bietet die Chance für einen „Leapfrog“, so die Studienautoren. In den meisten Industriestaaten hat das Energiesystem viele Entwicklungsstufen durchlaufen: Vom limitierten Zugang über die sichere und umfassende Versorgung aus rein fossilen Quellen bis hin zum Umstieg auf Ökostrom. In Schwellenländern könnte das System die Phase der Öl-, Kohle- und Gasverstromung größtenteils überspringen. Regionen, die heute noch gar nicht ans Stromnetz angeschlossen sind, könnten in einigen Jahren direkt mit Wind- oder Solarenergie versorgt werden. Einen solchen Sprung gab es auch in der Telekommunikation: Statt eines Festnetzanschlusses haben viele Menschen in Afrika direkt ein Handy bekommen.
Das hätte Auswirkungen auf den globalen Systemwandel. Die Forscher gehen davon aus, dass Schwellenländer zwischen 2019 und 2040 für 88 Prozent des Wachstums der Stromnachfrage verantwortlich sein werden. Wenn sie nicht direkt auf Erneuerbare Energien setzen, könnte das die Pariser Klimaziele in Gefahr bringen. Das unterstreicht auch die Studie: Um die Treibhausgasemissionen weltweit bis 2050 auf Null zu senken und die globale Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen, müssen demnach 84 Prozent des erwarteten Nachfragezuwachses aus regenerativen Quellen gedeckt werden.
Die Autoren sind zuversichtlich, dass es in vielen Schwellenländern zum „Leapfrog“ kommen wird, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Dazu gehören offene und transparente Märkte sowie die Einführung von marktgetrieben Ausschreibungen und Auktionen für den Kapazitätsausbau – wichtige Voraussetzungen, um Investoren und dringend benötigtes Kapital für den Ausbau anzuziehen.
Einige Länder haben bereits gezeigt, wie das aussehen kann, allen voran Indien: Der südasiatische Staat hat mit dem Anschluss nahezu aller Haushalte und der weitreichenden Einführung von Erneuerbaren inklusive klarer Ausbauziele sogar gleich einen doppelten Sprung nach vorne gemacht. Und auch in den anderen Schwellenländern (ohne China) sind die Erneuerbaren weiter auf dem Vormarsch. 2019 waren dort laut Report 87 Prozent der neuen Erzeugungskapazität regenerativ.